Im Gegensatz zu prähistorischen marinen Reptilien wie Plesiosauriern, Mosasauriern oder Ichthyosauriern gekommen fossile Wale in der Regel nur recht wenig Publicity, und auch in Büchern werden in aller Regel nur eine handvoll Arten vorgestellt, obendrein meistens auch mehr oder weniger die selben. Zu diesen gehören insbesondere Basilosaurus und Dorudon, wobei es sich bei beiden im Übrigen nicht um einzelnen Arten, sondern um Gattungen mit jeweils mehreren bekannten Spezies handelt. Dass ausgerechnet diese so häufig gezeigt werden, hat zweifellos auch einen historischen Grund, denn beide sind schon seit über hundert Jahren durch recht gute und vor allem sehr zahlreiche Fossilfunde bekannt. Dass es auch noch sehr viele andere, teilweise sogar exzellent erhaltene Archaeoceti gab, wird meistens völlig unterschlagen, so dass man leicht den Eindruck bekommt, dass die frühe Walfauna nur aus jenen beiden Formen bestanden hat. Tatsächlich war die Diversität allerdings schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt in der Evolution der Wale erstaunlich hoch, und ständig werden neue Arten entdeckt. Hinzu kommt, dass uns seit nunmehr über 100 Jahren immer wieder aufs Neue Rekonstruktionen aufgetischt werden, welche mit größter Wahrscheinlichkeit nicht dem tatsächlichen Aussehen dieser Tiere entsprechen. Die meisten Darstellungen von Basilosaurus und anderne frühen Urwalen sehen in etwa so aus (Quelle: Wikipedia):
Die Zeichnung ist vom künsterlischen ja an sich ganz gut, doch weist sie einige eklatante Fehler auf. Eigentlich wollte ich auf dieses spezielle Thema schon vor Jahren einmal näher eingehen, habe es dann aber irgendwie nie geschafft. Erst durch die kürzliche Veröffentlichung des Buches „All Yesterdays: Unique and Speculative Views of Dinosaurs and Other Prehistoric Animals “ von meinem guten Freund Dr. Darren Naish hat mich dazu angespornt, den Artikel endlich zu schreiben. In dem Buch geht es um die Problematik der Rekonstruktion ausgestorbener Arten von denen lediglich die Knochen bekannt sind, und die damit einhergehende Problematik dass besonders bei Tieren ohne lebende Verwandte das Aussehen und die Menge des Weichgewebes im Prinzip völlig unbekannt sind. Desweiteren wird die seit Anbeginn der Paläontologie verbreitete Unsitte des „shrink-wrapping“ oder Zusammenschrumpfens kritisiert, bei der viele Tiere auf eine Art und Weise portraitiert werden, die nur einen minimalen und völlig unnatürlichen Anteil von Weichgewebe und Haut über dem Skelett zeigt.
Dies betrifft vor allem Dinosaurier, prähistorische Säuger sind davon glücklicherweise in der Regel weitaus weniger betroffen, da hier allgemein weitaus bessere Vergleiche zu lebenden Arten möglich sind. Aber eben leider nicht immer, und gerade bei den Archaeoceti werden immer wieder die gleichen Fehler gemacht. Was genau das ist, soll hier noch einmal anhand von Basilosaurus gezeigt werden. Hier ist ein Photo eines Schädels von Basilosaurus cetoides, ebenfalls von Wikipedia:
Wenn man ihn mit der zuvor gezeigten Rekonstruktion vergleicht, fällt auf dass der Kopf des Basilosaurus fast zu 100% der Form des Schädels entspricht, und damit ein besonders gutes Beispiel für „shrink-wrapping“ ist. Dieser Basilosaurus (und auch die meisten anderen Rekonstruktionen) sieht kaum nach einem Säugetier aus, sondern viel mehr nach einem Reptil wie etwa einem Mosasaurier, wobei allerdings auch bei diesen ähnlich heutigen Waranen die Zähne kaum sichtbar gewesen esin dürften. Dies liegt nicht nur an dem recht lange Körper (der im Übrigen in Wirklichkeit noch weitaus länger war als hier dargestellt), sondern vor allem an den Zähnen und der Nasenregion. Bei Reptilien ist in aller Regel tatsächlich sehr wenig Muskulatur, Fett-, Knorpel-und Bindegewebe im Kopfbereich vorhanden, und das Äußere entsprechen teilweise tatsächlich recht stark dem darunter liegenden Schädel, wenngleich auch hier keineswegs zu stark verallgemeinert oder vereinfacht werden darf, insbesondere in Bezug auf Dinosaurier.
Aber Basilosaurus und seine Verwandten waren Säugetiere, und es gibt keinerlei Grund anzunehmen, dass ihre Schädel mit deratig wenig Weichgewebe bedeckt waren wie man das meistens zu sehen bekommt. Zwar hatten sie noch keine Echolotorgane, welche bei heutigen Zahnwalen teilweise einen erheblichen Einfluss auf die äußere Form des Kopfes haben, aber dennoch dürften sie fast mit Sicherheit anders ausgesehen haben als die zähnestarrenden, reptilartigen Monstrositäten die wir kennen. Dem liegen eine Reihe von Überlegungen zugrunde. Zum einen muss man sich einmal bewusst machen, von was für Tieren die frühen Wale abstammten. Auch wenn sie sich in einigen Merkmalen wie etwa dem ausgesprochen großen Schädel von vielen heutigen Raubtieren unterschieden, dürften noch stark terrestrisch gebundene frühe Walvorfahren wie Pakicetus oder Indohyus noch mit Sicherheit Säugetier-typische anatomische Merkmale wie Lippen, Backen und Nasen besessen haben, wie man etwa auf dieser wunderschönen von Carl Buell angefertigen Rekonstruktion von Indohyus sieht:
Abgesehen von einigen wenigen Arten bei denen spezialisierte Eck-oder Schneidezähne auch bei geschlossenem Maul herausragen, können alle landlebenden Säugetiere ihr Maul komplett schließen, da die Lippen über die Zähne ragen, und so die Mundhöhle abschließen können. Hinzu kommt dass auch die Mundwinkel durch das Vorhandensein von flexiblen Gewebe in der Wangenregion viel weiter vorne liegen als die hintersten Zähne. Das trifft übrigens auch auf Robben und andere größtenteils im Wasser lebende Säugetiere zu, auch auf Arten wie den Seeleoparden, der ein ausgesprochen tief gespaltenes Maul hat. Aber durch die Lippen und das Wangengewebe sind dennoch bei geöffnetem Maul normalerweise allerhöchstens noch die langen Eckzähne zu sehen, wie man auf diesem Bild von Wikipedia erkennen kann:
Aber auch moderne Wale haben Backen und Lippen, auch wenn diese etwas anders aussehen als bei anderen Säugern. Sie sind recht steif und wenig flexibel, aber dennoch immer mehr oder weniger ausgeprägt vorhanden. Abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen wie dem Gangesdelphin, bei dem die vordersten Zähne in den schnabelförmig verlängerten Kiefern wie eine Pinzette „offen“ ineinander beißen, haben alle anderen Wale die Fähigkeit ihr Maul zum umliegenden Wasser dicht zu schließen. Dies kommt zustande weil die Oberlippen die Zähne des Oberkiefers überragen, vor allem im hinteren Bereich des Maules teilweise sogar erheblich, und regelrechte Wangentaschen bilden können. Wird das Maul geschlossen, greifen die Zähne des Unterkiefers zwischen die Zähne des Oberkiefers, und werden dadurch von den Lippen verdeckt und die Mundhöhle geschlossen. Besonders eindrucksvoll sieht man das bei Arten mit sehr großen Zähnen, wie etwa dem Orca oder dem Kleinen Schwertwal Pseudorca crassidens. Bei ihnen haben die Zähne im Vergleich zum Schädel ähnliche Ausmaße wie bei den oftmals sehr großzähnigen Archaeoecti, wie man hier am Beispiel eines Schädelabgusses von Pseurorca crassidens aus dem Zoologischen Museum in Kopenhagen sehen kann:
Doch ungeachtet der sehr großen Zähne sind bei geöffnetem Maul von der Seite lediglich jene im Unterkiefers zu sehen, die oberen werden durch die steifen Lippen komplett verdeckt. Es gibt auch weitaus bessere Bilder die das zeigen, und bei denen man besonders gut sieht wie weit vor allem die hinteren Zähne von den Wangen überragt werden, aber leider keine die ich für den Artikel verwenden konnte.
Was sagt uns das nun über das Aussehen der Archeaoceti? Rein logisch betrachtet muss man davon ausgehen dass, wenn sowohl ihre Vorfahren säugertypische Lippen besaßen, als auch die heutigen Wale (wenngleich auch abgewandelte) Lippen haben, sie ebenfalls welche besessen haben müssen. Andernfalls hätten sie ihr Maul gar nicht richtig schließen können, was an Land zum Austrocknen der Mundhöhle und im Wasser zu einem ständigen Durchfluss geführt hätte. Genau das wäre aber der Fall bei all den Rekonstruktionen gewesen, bei denen die Zähne vollständig sichtbar aus dem Oberkiefer ragen, und – seltsamerweise – werden sie auch fast immer mit geöffnetem Maul dargestellt, da sich kaum jemand je der Problematik gestellt hat wie es aussehen würde wenn die Kiefer geschlossen wären. Die Lippen der frühesten Formen waren sicherlich noch flexibler und weniger steif als die moderner Wale, aber in jedem Fall kann man davon ausgehen dass sie zumindst im Oberkiefer gut ausgebildet waren, und die Zähne zumindest im hinteren Teil völlig, und im vorderen Teil des Maules zumindest größtenteils verdeckt haben. Übrigens werden häufig nicht nur Archaeoceti, sondern auch andere fossile Zahnwale wie Squalodonten oder etwa die „Killerpottwale“ wie Zygophyseter oder Brygmophyseter sehr häufig ohne Lippen und mit deutlich sichtbaren Zähnen im Oberkiefer dargestellt.
Ein weiterer Grund warum sehr viele Rekonstruktionen so reptilienartig und „schädelig“ sind, liegt daran dass das Weichgewebe rund um die Nase meistens mehr oder weniger völlig missachtet wird. Säugetiere besitzen üblicherweise ein komplexes System aus Knorpel-und Muskelgewebe in ihren Schnauzen, das letztendlich dem Profil erst seine eigentliche Form verleiht. Auch die Nase des Menschen besteht zum größten Teil aus Knorpel, und nur ein recht kleiner Teil wird vom eigentlichen Nasenbein gebildet. Im Wasser lebendende Säuger besitzen normalerweise verschließbare Nasenöffnungen, was zusätzlich ausgebildete Muskulatur, und daher auch ein etwas höheres Gewebevolumen vor der eigentlichen knöchernen Nasenöffnung bedingt. Es ist sehr schwer zu sagen wie die Schnauzen der frühen Wale ausgesehen haben, aber man kann mit Sicherheit davon ausgehen dass sie nicht einfach nur Löcher in der Haut über dem Nasenbein waren. Ihre terrestrischen Vorfahren hatten eine weiche Schnauze aus Knorpeln und Muskeln, und auch ihre heutigen Nachfahren besitzen etwas vergleichbares. Die auf ein einziges Blasloch reduzierte Atemöffnung der Zahnwale mit ihren komplexen Verbindungen zum Echolotorgan ist hier kein besonders guter Vergleich, da hier durch Melone und Fettgewebe beinahe alles verdeck ist. Das linksseitig gelegene Blasloch des Pottwals ist hier eine Ausnahme, und man erkennt deutlich einen recht großen muskulösen Wulst um es herum. Die Bartenwale entwickelten im Gegensatz zu den späteren Zahnwalen keine Echolotorgane, und da sie sich bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt von den Archaeoceti abspalteten, sind sie wahrscheinlich auch der beste Vergleich in Bezug auf die Nasenöffnungen. Wie man auf diesem Photo (von Wikipedia) eines Finnwals sieht, sind die paarigen Nasenöffnungen von einem erstaunlich großen Wulst umgeben, welcher unter der Haut und dem Speck sowohl von den Nasenknorpeln als auch verschiedenen sie verbindenden Muskeln gebildet wird.
Dieses Photo stammt aus dem Zoologischen Museum in Hamburg, und zeigt den Schädel eines Furchenwales. Ich bin mir leider nicht mehr genau sicher um welche Art es sich handelte, aber ich meine es sei ebenfalls ein Finnwal gewesen. Wie man erkennen kann entspricht das äußere Profil der Nasenregion keineswegs jenem des Schädels, eben weil auch bei heutigen Bartenwalen sehr viel Gewebe um die Nasenöffnungen vorhanden ist.
Entsprechend muss man auch hier davon ausgehen dass bei den Archaeoceti die Schnauzenregion vor der Nasenöffnung des Schädels deutlich fleischiger war als meistens dargestellt, und vielleicht sogar den dahinter liegenden Bereich des Nasenbeins leicht überragt haben könnte. Mit Sicherheit hat die Schnauzenregion aber nicht der Form des Schädels entsprochen, und entsprechend anders dürfte das Profil ausgesehen haben.
Eine weiter Körperregion die bei Archaeoceti oft falsch dargestellt wird, ist der Hals. Sehr oft ist der Kopf stark und äußerst aprupt vom Körper abgesetzt, und häufig sogar mit einem dünnen Hals. Warum nun ist dies sehr unwahrscheinlich? Hier muss man sich überlegen, dass ein stark vom restlichen Körper abgesetzter Hals höchstwahrscheinlich strömungsungünstig gewesen wäre, und zum anderen aus thermoregulatorischer Sicht ebenfalls ungünstig, weil gerade an diesem zur Versorgung des Kopfes sehr gut durchblutetem Körperareal im Wasser sehr viel Wärme verloren ginge. Bei Robben ist im Halsbereich extrem viel Fett vorhanden, welches einerseits isoliert, und zum anderen den Körperbewegungen folgt, und immer eine übergangslose strömungsgünstige Form bildet. Tatsächlich entspricht bei Robben die äußere Form des Halses nicht einmal annäherungsweise der Form der Wirbelsäule. Auf dem weiter unten gezeigten Photo aus dem Naturkunde-Museum in Berlin sieht man sehr deutlich wie das Fett im Hals den Übergang vom Kopf über den Hals und Körper völlig egalisiert. Anhand von Röntgenaufnahmen von Seehunden weiß man dass deren Halswirbelsäulen sogar noch weitaus extremer nach hinen gebogene Stellungen einnehmen können, ohne das man von außen eine große Änderung der Konturen erkennen kann. Ebenfalls sehr auffällig ist der extrem verlängerte Schwertfortsatz des Brustbeins. Auch der Nacken bildet trotz der massiven S-Krümmung des Halses keine Einbuchtung.
Zum Vergleich habe ich auch noch mal das Skelett samt Außenhülle eines Schweinswales dazu gestellt, um zu zeigen wie unterschiedlich hier auch Skelett und Körperform sind. Bereits von der vordersten Schnauzenregion an verläuft der Mundboden übergangslos über das Zungenbein in den Brustbereich. Hier muss man auch bedenken dass Wale auch ein sehr gut ausgeprägtes Zungenbein samt anhängender Muskulatur haben (was sehr praktisch ist wenn man unter Wasser die Beute mehr oder weniger stark ins Maul saugen möchte), und dieser Bereich nicht nur nur von Fett ausgefüllt wird. Auch der deutliche Höhenunterschied zwischen dem Scheitel des Schädels und der Wirbelsäule ist komplett durch Muskulatur und darüber liegenden Blubber ausgeglichen. Auch fällt auf, dass die Kontur des Rückens insgesamt ein gutes Stück über den Dornfortsätzen der Wirbel liegt.
Selbst die sehr frühen Archaeoceti wie Dorudon, die sogar noch recht deutlich erkennbare äußere Hintergliedmaßen besaßen, waren bereits weitaus stärker an ein Leben im Meer angepasst als sämtliche heutige Robben. Es gibt wirklich keinen Grund warum sie nicht auch sowohl im Kehl-als auch im Nackenbereich bereits gut ausgebildete Fettpolster gehabt habens sollten, und der Übergang zwischen Kopf und Körper viel weniger drastisch war, als man es meistens auf Rekonstruktionen sieht. Zudem ist die Zunahme des Fettpolsters in einer solchen Körperregion ein Merkmal das nur äußerst geringe Änderung der vorhandenen Verhältnisse nötig macht, und zudem aufgrund besserer Isolation und besserer Hydrodynamik mit Sicherheit einen Selektionsvorteil bot. Insofern ist es sogar durchaus anzunehmen dass sogar bereits sehr frühe, vermutlich sogar noch robbenähnlich ans Land kommende Urwale bereits fette Hälse hatten.
Um noch einmal zu illustrieren wie irreführend das Skelett eines Tiere für das tatsächliche Aussehen sein kann, habe ich hier noch einmal ein Skelett von Dorudon atrox (von Wikipedia) im direkten Vergleich zu einem Schwertwal-Skelett aus dem Zoologischen Museum in Hamburg:
Im Großen und Ganzen unterscheiden sich die Proportionen der beiden Skelette gar nich einmal sonderlich. Vielmehr scheint beim Orca der Kopf sogar fast noch stärker vom Körper abgesetzt als bei Dorudon. Würde man heutzutage keine Wale kennen, würde man diesen Schwertwal nur anhand des Skeletts fast mit Sicherheit mit einem viel zu schlanken Hals und einem deutlich vom Körper abgesetzen Kopf rekonstruieren. Was ebenfalls bei genauerem Hinsehen auffällt, ist dass der Hals von Dorudon noch gar nicht einmal so sehr viel länger war als beim Schwertwal. Zwar waren die Halswirbel noch beweglicher und länger, aber das bedeutet noch keineswegs dass der Hals deswegen auch schlank war.
Beim Orca verläuft statt einer deutlichen Eindbuchtung zwischen Unterkiefer und Brustkorb der Körper vom Kinn bis zum Brustbereich fast völlig konvex, was natürlich den ganzen Körper viel stromlinienförmiger macht. Zum besseren Vergleich, hier noch mal ein lebender Schwertwal (mal wieder von Wikipedia):
Auch einige lebende Arten wie der Irawadidelfin (Orcaella brevirostris) haben aufgrund nicht verwachsener Halswirbel einen sehr beweglichen Kopf, und tatsächlich ist bei ihnen die Halsregion etwas schlanker als bei den meisten anderen Walen, aber keineswegs so stark abgesetzt wie man es oft beispielsweise bei Darstellungen von Basilosaurus sieht.
Ein besonders gutes Beispiel dafür, wie viel Weichgewebe auch über den Skeletten von modernen Furchenwalen vorhanden ist, repräsentiert dieses Skelett eines Seiwales (Balaenoptera borealis) mit Darstellung des Körperlängsschnittes, welches im Muesum für Naturkunde im Schloss Rosentein in Stuttgart ausgestellt ist:
Man kann zum Beispiel sehr gut erkennen, wie viel Muskeln und Blubber noch oberhalb der Wirbel liegen, und wie den riesigen Kopf stützende Bänder (das Ligamentum nuchae) von den Ausläufern der Rückenwirbel zum Hinterhauptsbereich des Schädels ziehen, und keinerlei Einbuchtung um Nackenbereich vorhanden ist. Man sieht auch sehr schön wie die bei Bartenwalen ziemlich extrem ausgebildete Zunge und die darunter zwischen Unterkiefer und Zungenbein ansetzende Muskulatur verläuft. Was genau aber mit all diesen Strukturen passiert wenn Furchenwale fressen und sich ihr Kehlsack mit den namensgebenden Furchen aufdehnt, ist mit immer noch ein völliges Rätsel, allerdings ist das Thema für einen eigenen Artikel.
Was als Resumée bleibt, ist dass auch Archaeoceti mit Sicherheit zumindest im Oberkiefer Lippen hatten welche ihre oberen Zähen verdeckten, dass sie Knorpel-und Muskelgewebe vor ihrer knöchernen Nasenöffnung hatten, und dass ihre Hälse fast mit Sicherheit schon recht dick gewesen sind. Wenn man all dies berücksichtigt, und beispielsweise Dorudon unter diesen Gesichtpunkten rekonstruiert, kommt dabei ein Wesen heraus das viel weniger reptilienhaft und fremdartig, dafür aber viel mehr wie ein moderner Wal aussieht, als die meisten anderen Darstellungen.
Um das noch etwas besser zu illustrieren, habe ich zweimal eine Rekonstruktionszeichnung von Dorudon atrox anhand des Skeletts gemacht, einmal traditionell, das heißt ohne Lippen, Nasenknorpel und mit einem dünnen Hals, und einmal „natürlich“. Die obere Rekonstruktion habe ich bewusst relativ extrem gemacht, zum Glück zeigen sowohl einige der neueren als auch schon einige der älteren Rekonstruktionen zumindest teilweise Ansätze den Kopf- und Hals mit mehr als nur über die Knochen gespannter Haut zu rekonstruieren. Es gibt allerdings auch durchaus Rekonstruktionen in denen etwa der Kopf noch stärker vom Körper abgesetzt ist, und die Maulspalte teilweise fast bis zum Kiefergelenk verläuft. Erschreckenderweise findet man solche Monstrositäten teilweise sogar noch heute in der Fachliteratur…
Wenn man die beiden verschiedenen Rekonstruktionen betrachtet, erscheint die erstere eigentlich sehr unnatürlich und grotesk, vor allem mit den riesigen und frei sichtbaren Zähnen im hinteren Bereich des Oberkiefers. Dagegen erscheint die untere Rekonstruktion viel lebensechter und natürlicher, und viel mehr wie ein Wal als wie ein Reptil. Ich habe mich beim Verlauf der Oberlippe und der Ausformung des Mundwinkels vor allem an Pseudorca orientiert, aber auch an anderen Arten, wie etwa Schwertwalen. Auch den Hals und Kehlbereich habe ich an Pseudorca orientiert, allerdings bewusst den Hals noch etwas schlanker gelassen, wobei mir hier Irawadidelfine als Vorbild dienten. Bei der Oberseite des Kopfes dagegen standen Furchenwale Pate, da diese eine gut sichtbare Nasenregion besitzen, aber insgesamt nur sehr wenig Weichgewebe auf der Oberseite des Schädels haben, und daher wahrscheinlich noch viel besser mit Archaeoceti vergleichbar sind. Man muss auch bedenken dass die Zähne beim lebenden Tier etwas kürzer aussahen als am Schädel, da sie ja über dem Knochen noch zusätzlich von Zahnfleisch umgeben waren. Es ist sogar durchaus gut möglich dass die Köpfe der Archaeoceti sogar noch weniger den Schädelformen entsprochen hat, als ich das im unteren Bild dargestellt habe. Es könnte sehr gut sein dass vor allem die Profillinie der Kopfoberseite ähnlich wie beim Beispiel des Seiwales noch mehr Muskel-, Knorpel-, Binde-und Fettgewebe aufwies, und dadurch auch insgesamt noch etwas runder verlief.
Vor Jahren habe ich einmal ein Modell von Dorudon gemacht, wobei ich mich ebenfalls bei den Proportionen stark an das Originalskelett gehalten habe, allerdings unter den vorher genannten Gesichtspunkten in Bezug auf das Weichgewebe. Daher ist der Bereich des Oberkiefers dicker und auch die Nüstern sind mitbeachtet worden. Ich behaupte nicht dass dieses Modell perfekt ist (das ist es nicht), und auch würde ich heute ein paar Dinge etwas anders machen, etwa die Konkavität im Nacken ganz weg lassen, und vielleicht sogar noch etwas mehr „Fett“ im Bereich zwischen Unterkiefer und Brustansatz aufmodellieren, dann würde das Modell noch viel mehr wie ein moderner Wal aussehen.
Das Modell ist nicht besonders groß, daher konnte ich auch im Bereich des Kopfes nicht allzu weit die Details wie etwa die Nasenregion ausarbeiten.
Ich hoffe sehr dass dieser Artikel vielleicht den einen oder anderen der sich ebenfalls mit fossilen Walen beschäftigt auf diese speziellen Gesichtspunkte bei der Rekonstruktion aufmerksam gemacht hat. Zudem gelten diese Aspekte nicht nur bei Archaeoceti, sondern auch bei vielen anderen ausgestorbenen Tieren, nämlich dass diese unter Umständen vielleicht teilweise ganz anders ausgesehen haben als uns ihre Skelette zuweilen glauben lassen, und als wir sie uns schon seit Jahrzehnten vorstellen.
Fantastisch fuer Illustratoren wie ich, danke!
Der beste Artikel seit langem. Richtig spannend und sehr interessant.
Ähnlich wurde es ja für Säbelzahnkatzen in dem Buch über fossile Großkatzen beleuchtet:
http://www.amazon.de/The-Cats-Their-Fossil-Relatives/dp/0231102291
Ja, das Buch ist wirklich klasse, vor allem weil darun so ausführlich wie kaum jemals zuvor auf die Anatomie und Rekonstruktion ausgestorbener Arten eingegangen wird. Die anderen Bücher aus dieser Reihe sind allerdings auch alle äußerst zu empfehlen.
Hallo Markus!
Ein großes Lob für Deinen tollen Beitrag! Ich habe es eben beim recherchieren nach vergleichender Anatomie/Morphologie für Meeressäugetiere gefunden.
Ich arbeite momentan als Bildhauer an einer Lebendrekonstruktion einer urzeitlichen Seekuh (Halitherium schinzi) aus dem Oligozän für ein Besucherzentrum bei Sopron (Ungarn) über das Pannonmeer.
Da das Thema: Evolution der Säugetiere meine große Leidenschaft ist, wiedersetzte ich mich den Vorlagen meines Chefs und fing an, auf eigene Faust herauszufinden, wie die Seekuh wohl ausgesehen haben mag (ich kritisierte ebenfalls die lebensfremden Darstellungen der existierenden rekonstruktionen, auch meiner Freundin erläuterte ich erst vor ein paar Tagen, dass alle Formen in der Natur dynamisch sind, alle kommen irgendwoher und gehen irgendwo hin – viele der Rekonstruktionen ignorieren dies).
Interessanter Weise bin ich auf fast die selben Konklusionen gekommen, die Du hier sehr ausführlich und anschaulich erläutert hast. Wenn man Skelette und vor allem Schädel gründlich miteinander vergleicht, kann man sogar die Vorgänge der Evolution darin ‚lesen‘ – und wenn man über deren Lebensweise bescheid weis, kommt der wunderbare Moment des Verstehens: WARUM!
Aus diesem Grund gibt es m.M.n. einen minimalen Kritikpunkt: Das Skelett darf man auf keinen Fall missachten, sondern man muss deren Funktion verstehen (wie bereits erwähnt – in der Natur hat alles einen Sinn). Wenn man Knochen genau betrachtet kann man sogar wirklich in ihnen lesen, z.B. wie stark bestimmte Muskeln ausgeprägt waren, ob sie eher der Ausdauer dienten, oder der Schnellkraft … . Es gibt eine ungarische Expertin in diesem Gebiet, von der ich dies gerne lernen möchte (Ágnes Kustár) sie ist spezialisiert auf forensische Anthropologie (Gesichtsrekonstruktion archeologischer Menschenknochen) .
Ich habe übrigens die Vermutung, dass sich sogar große Nasen und andere Weichteile bemerkbar machen, wenn man an der richtigen stelle Sucht.
Entschuldige für meinen langen Komentar, aber sieh es als ein Danke von mir für deinen Artikel!
Liebe Grüße!
Sebastian Jasper aus Budapest
Ich würde gerne mal mit Ihnen über die Evolution der Wale sprechen. Bisher wurden nur Knochen dafür verwendet, die Antomie wird vollkommen vergesen.
M, f. G.
G. Behrmann