Was wäre das für ein Sommer gewesen, wenn es nicht noch irgendein Sommerloch-Monster gegeben hätte? Nach ausgerissenen Kaimanen, vermeintlichen Krokodilen sowie dackelfressenden und wadenbeißenden Welsen soll jetzt auch noch eine bissige Schildkröte in einem deutschen See ihr Unwesen treiben. Wie so oft siegt der Sensationalismus über den Rationalismus, und es werden eine Menge falsche Darstellungen in Umlauf gebracht. Ich schreibe ja normalerweise nicht über aktuelle Meldungen, aber in diesem Fall halte ich es doch für sinnvoll, ein paar Richtigstellungen zum Thema aufzuzeigen. Zunächst, für alle die es nicht mitbekommen haben, noch einmal der eigentliche Fall:
In einem Badesee nahe Irrsee bei Kaufbeuren, ist ein achtjähriger Junge beim Baden in den Fuß gebissen worden, wobei ihm eine Achillessehne durchtrennt wurde.
Der See wurde gesperrt, der Uferbereich wurde von Feuerwehrleuten mit Harken durchsucht, teilweise niedergemäht und in einem Anfall von Hysterie sogar letztendlich das ganze Wasser abgelassen und die Fische in einen 2 km entfernten Teich verfrachtet, um den Schlamm nach dem „Monster“ abzusuchen, sogar mit Hilfe eines Spürhundes. Es wurde sogar davon gesprochen im Notfall den Teichgrund auszubaggern.
Tatsächlich gesehen wurde der Angreifer nicht, es wurde lediglich verlautbart, dass es sich den Bissspuren nach um eine Alligatorschildkröte gehandelt haben soll, mit einer vermuteten Größe von circa 40 cm und etwa 14 kg Gewicht. Oder um eine Schnappschildkröte. Oder um eine Geierschildkröte.
Geierschildkröte (Photo von Wikipedia)
Das Problem ist, dass zahlreiche Journalisten allem Anschein nach einige Dinge nicht ganz verstanden haben, denn es werden Schnapp-, Geier- und Alligatorschildkröten munter durcheinander gewürfelt. An dieser Stelle zunächst einmal eine Klarstellung, um weitere Missverständnisse möglichst zu vermeiden. Zum einen gibt es die Schnappschildkröten der Gattung Chelydra, welche im Englischen „snapping turtle“ genannt wird. Zum anderen gibt es die Alligatorschildkröte Macrochelys temminckii, die im Deutschen synonym wegen ihres hakenförmigen Schnabels Geierschildkröte genannt wird, und im Englischen „alligator snapping turtle“. Die Schnappschildkröten umfassen drei Arten, die Gemeine Schnappschildkröte (Chelydra serpentina) sowie die Mittelamerikanische Schnappschildkröte (Chelydra rossignonii) und die Südamerikanische Schnappschildkröte (Chelydra acutirostris). Teilweise wird für die Gewöhnliche Schnappschildkröte noch die Unterart Chelydra serpentina osceola aufgeführt, doch wird diese inzwischen nicht mehr als eigene Unterart angesehen. Die Geierschildkröte ist dagegen monotypisch, es gibt nur eine Gattung (Macrochelys) mit einer Art (Macrochelys temminckii). Geier-und Schnappschildkröten gehören zu unterschiedlichen Gattungen, aber immerhin noch zur gleichen Familie, den Chelydridae oder Alligatorschildkröten. Das kann natürlich leicht zu Missverständnissen führen. Ich werde daher für die Art M. temmincki ausschließlich den Begriff „Geierschildkröte“ verwenden, und Alligatorschildkröten (wohlgemerkt im Plural) für die Familie.
Geier-und Schnappschildkröten sehen sich oberflächlich ähnlich, weshalb sie auch häufig miteinander verwechselt werden. Sie unterscheiden sich jedoch in einer ganzen Reihe von Merkmalen, Verhaltensweisen und der Verbreitung. Die Geierschildkröte kommt im Osten von Texas, Teilen von Florida, dem Nord-und Südosten von Kansas, Missouri, dem Südwesten von Iowa, dem Westen von Illinois, dem Süden von Indiana, dem Westen von Kentucky und dem Westen von Tennessee vor. Insgesamt also eher die wärmeren Gebiete der Vereinigten Staaten. Dagegen reicht das Verbreitungsgebiet der Gemeinen Schnappschildkröte viel weiter nordwärts, bis in den Südosten Kanadas. Auch kommen sie insgesamt in einem weitaus größerem Gebiet vor als die Geierschildkröte, wie man auf dieser Karte von der englischen Wikipedia-Seite sehen kann:
Verbreitungsgebiet der Gewöhnlichen Schnappschildkröte (von Wikipedia)
Die Mittelamerikanische Schnappschildkröte kommt in Belize, Guatemala, Honduras und Mexiko vor, die Südamerikanische Schnappschildkröte in Kolumbien, Costa Rica, Ecuador, Honduras, Nicaragua und Panama.
Bei Schnappschildkröten in Europa handelt es sich eigentlich praktisch immer um die Gemeine Schnappschildkröte, wobei besonders jene aus dem nördlichen Verbreitungsgebiet erstaunlich kälteresistent sind, und an geeigneten Stellen ohne Probleme auch kalte mitteleuropäische Winter überstehen. Aber auch ausgesetzte Geierschildkröten haben erwiesenermaßen schon viele Jahre „wild“ in Europa überlebt.
Wer sich mit den verschiedenen Arten nicht auskennt, kann durchaus Probleme haben Geier-und Schnappschildkröten voneinander zu unterscheiden, doch eigentlich ist es gar nicht schwer. Da wäre zum Beispiel der Umstand dass die Geierschildkröte ganz erheblich größer wird als Schnappschildkröten. Wie groß genau ist schwer zu sagen, da es eine ganze Reihe von mehr oder weniger legendären, und teilweise sicherlich übertriebenen Größenangaben gibt. Doch kann man zweifelsfrei sagen, dass Geierschildkröten in Einzelfällen gut über 100 kg schwer werden können, mit Panzerlängen von über 80 cm. Dabei muss man aber wie immer bedenken, dass es sich hier um Ausnahmen handelt, der Durchschnitt liegt deutlich darunter. Zuweilen liest man dass Geierschildkröten die größten Wasserschildkröten der Welt sind. Allerdings erreichen auch verschiedene Weichschildkröte ähnliche, und wahrscheinlich auch noch etwas größere Dimensionen. Im Archiv des Museums für Naturkunde in Berlin ist ein riesiges Exemplar ausgestellt, dessen Kopf in etwa so groß ist wie der eines Kindes:
Schnappschildkröten wiegen dagegen im Durchschnitt „nur“ bis etwa 16 kg, wobei einzelne Exemplare in seltenen Fällen auch zwischen 30 und 40 kg wiegen können, und damit durchaus sie Dimensionen einer kleineren Geierschildkröte erreichen.
Eine Besonderheit der Geierschildkröte ist ihre Zunge, denn auf ihr sitzt ein wurmförmiges bewegliches Organ, mit dessen Hilfe sie Fische praktisch bis zu ihrem Maul locken. Bei diesem Fortsatz handelt es sich um ein eigenständigen Teil, und nicht um die Zunge selbst.
Geierschildkröte mit geöffnetem Maul (Photo von Wikipedia)
Diesen wurmförmigen Zungenauswuchs sieht man allerdings auch nur bei genauem Hinsehen, und natürlich auch nur wenn die Geierschildkröte ihr Maul offen hat. Besser zur Artbestimmung geeignet ist der Kopf an sich, denn dieser ist für eine Schildkröte extrem groß und breit, und natürlich auch nicht mehr unter den Panzer einziehbar. Zwar haben auch Schnappschildkröten einen relativ großen Kopf, doch ist dieser im direkten Vergleich deutlich kleiner. Neben der Größe des Kopfes fällt auch der sehr stark ausgeprägte „Geierschnabel“ auf, welche auch im Unterkiefer stark hakenförmig gekrümmt ist. Zudem haben Geierschildkröten an Kopf und hals kleine „Zotten“ welche wahrscheinlich der Tarnung dienen, und die bei Schnappschildkröten nicht vorhanden sind.
Gelegentlich liest oder hört man auch, dass Geierschildkröten den stärksten Biss aller Tiere haben, doch auch das entspricht nicht der Wahrheit, tatsächlich ist ihre Bisskraft noch nicht einmal besonders hoch, geschweige denn die höchste unter allen Tieren.
Ein weiteres typisches Merkmal der Geierschildkröte sind die stark ausgeprägten Höcker des Panzers, welche auch ein ausgeprägtes Oberflächenprofil haben, das man besonders gut auf dem ersten Photo am Anfang des Blogposts sehen kann. Junge Schnappschildkröten haben ähnliche Panzer, doch werden bei ihnen die Höcker im weiteren Verlauf des Lebens immer unscheinbarer, was auch an der stärkeren Abnutzung aufgrund ihrer aktivieren Lebensweise liegt. Bei erwachsenen Schnappschildkröten sieht man in der Regel nur noch drei eher unscheinbare flache Längsgrate oben auf dem Panzer.
Sowohl die Höcker des Panzers als auch den extrem großen Kopf kann man sehr gut an diesem nicht mehr ganz farbechten Präparat einer Geierschildkröte im Flur der Zoologischen Staatssammlung in München sehen:
Dagegen ist der Kopf und Schnabel dieser Schnappschildkröte im Nymphaea-Tierpark in Esslingen deutlich kleiner, und auch dier Panzer ist weitaus glatter und weniger strukturiert. Zum Vergleich eine davor liegenden „normale“ Schildkröte, eine Gelbbauch-Schmuckschildkröte (Trachemys scripta scripta):
Schnappschildkröten haben einen für Schildkröten ziemlich großen Kopf und einen gut ausgeprägten Schnabel, aber eben doch in weitaus weniger extremen Maße als Geierschildkröten.
Auffallend ist auch der ausgesprochen dicke Hals der Schnappschildkröten, welcher allerdings selten zur vollen Länge aus dem Panzer ragt, und erstaunlich lang ist.
Während die Panzer junger Schnappschildkröten noch relativ stark strukturiert sind, zeigen ältere Exemplare als einzige offensichtliche Besonderheit drei mehr oder weniger stark ausgeprägte Längskiele:
Wie bereits weiter oben geschrieben, unterscheiden sich Geier-und Schnappschildkröten auch im Verhalten. Erstere leben fast ausschließlich im Wasser, und kommen so gut wie nie ans Land, ausgenommen natürlich Weibchen welche ihre Eier ablegen. Schnappschildkröten dagegen kommen durchaus häufiger ans Land und entfernen sich auch weit von Gewässern, und sie können erstaunlich schnell laufen und sogar kleine Sprünge machen. Sogar Maschendrahtzäune können sie erklettern.
Einzelne Exemplare der Schnappschildkröten werden wirklich riesig. Die bisherigen Photos zeigen leider kaum einen Größenvergleich, zudem war keines der Exemplare übermäßig groß, und wahrscheinlich maximal im Gewichtsbereich von 10 bis maximal 15 kg. Mein Freund Cameron McCormick entdeckte in der Sammlung des Environmental Education Center der Audubon Society of Rhode Island einen Schnappschildkrötenschädel von fast 15 cm Länge.
Schnappschildkrötenschädel (Photo Cameron McCormick)
Anhand von Vergleichsdaten von Schnappschildkröten mit bekannter Schädel-und Panzerlänge aus der Literatur hat Cameron die Panzerlänge (wohlgemerkt die tatsächliche und nicht über den gewölbten Panzer gemessene Länge) des Exemplars auf etwa 48 cm hochgerechnet.
Cameron entdeckte in einem Teich in Maine ein lebendes Exemplar das vermutlich noch größer sein dürfte. Es gelang ihm mehrere Photos zu machen, unter anderem eines das eine vernünftige Größenschätzung möglich macht:
Riesenschnappschildkröte (Photo Cameron McCormick)
Der Vergleich mit Camerons Hand auf dem Panzer zeigt ebenfalls dass dieses Exemplar wirklich gigantisch für eine Schnappschildkröte ist:
Riesenschnappschildkröte (Photo Cameron McCormick)
Dieses Exemplar ist weitaus größer als alle Schnappschildkröten welche ich im Esslinger Zoo gesehen habe, und es ist durchaus möglich dass ihre Panzerlänger sogar mehr 50 cm beträgt. Bei dieser Größe kann eine Schnappschildkröte durchaus gut über 30 kg wiegen.
Dennoch ist es vollkommen übertrieben aufgrund der bloßen Vermutung einer Schnapp-oder Geierschildkröte in einem Gewässer einen solchen Aufwand zu betreiben wie es in Kaufbeuren der Fall gewesen ist. Es macht ziemlich wenig Sinn wenn eine Gruppe von lärmenden Leuten mit Harken in der Hand der Uferbereich nach einer Schildkröte durchsucht. Geierschildkröten halten sich dort normalerweise ohnehin nicht auf, und Schnappschildkröten würden, ähnlich wie andere Wasserschildkröten auch, schnell ins Wasser flüchten wenn sie sich gestört fühlen würden. Schildkröten in freier Natur sind teilweise extrem scheu, und flüchten bereits ins Wasser wenn man noch 20 bis 30 Meter von ihnen entfernt ist. Den ganzen Badesee abzulassen ist ebenfalls geradezu absurd, vor allem wenn man bedenkt was für ein Schaden an den dort lebenden Wassertieren dabei angerichtet wird. Ob eine solche Schildkröte im matschigen Grund eines abgelassenen Gewässers besser zu finden ist, bleibt ohne fraglich. In ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet werden Schnappschildkröten und leider auch die teilweise schon stark bedrohten Geierschildkröten immer noch gefangen um sie zu essen. Eine der am häufigsten benutzten Methoden diese zu fangen, besteht in der Verwendung beköderter Reusen. Da diese Schildkröten gerne Aas fressen, ist dies eine sehr gute und auch einfache Methode sie zu fangen. Warum man sich in Kaufbeuren nicht darauf beschränkt hat, ist mir ein Rätsel.
Man muss sich ohnehin fragen ob man diese – nur durch ihre vermeintlichen Bissspuren vermutete Schildkröte – überhaupt ein Grund ist einen See zu sperren. In den USA leben diese Tiere in tausenden Gewässern in denen auch Menschen baden, und es gibt keinen (!) dokumentieren Fall in dem ein Schwimmer von einer Geierschildkröte verletzt worden wäre. Die wenigen Fälle in denen Menschen tatsächlich gebissen wurden, ereigneten sich üblicherweise wenn sie außerhalb des Wassers in die Hand genommen wurden, und sich die Schildkröten berechtigterweise verteidigten. Hier sei noch eines angemerkt: Man sieht häufig auf Bildern wie Schnapp-und Geierschildkröten am Schwanz hochgehoben werden. Das sollte aber unbedingt vermieden werden, da sich die Tiere dabei ernsthaft verletzten können. Es kann zu schweren Verletzungen des Schwanzes oder sogar zu Einrissen der im Schwanzwurzelbereich gelegenen Kloake führen, was für die Schildkröten nicht nur äußerst schmerzhaft, sondern unter Umständen sogar lebensbedrohend werden kann.
Abschließend noch ein Photo einer winzigen Babyschnappschildkröte mit einer Panzerlänge von damals gerade nur 3,5 cm, welche Cameron in einem Haufen Tang am Strand gefunden hat (was ein eher ungewöhnlicher Fundort dieser eher im Süßwasser lebenden Art ist):
Baby-Schnappschildkröte (Photo Cameron McCormick)